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Prolog

  • Autorenbild: Litha Nova
    Litha Nova
  • 2. März
  • 17 Min. Lesezeit
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Viertes Zeitalter – Zweiter Tag im dritten Mond Garúis, 1231


Sarphaeus hatte seine Wahl getroffen. Er lächelte schief und kippte einen Becher Schnaps in einem Zug runter. Dein Tod wird nichts ändern, aber ich werde mich etwas besser fühlen. Vielleicht für einen Tag – oder zwei.

Der dämmrige Schankraum des Wirtshauses umschloss ihn warm und klebrig wie Teer. Die Luft – eine Wand aus Ruß, Hitze, dem Gestank dreckiger Leiber und Erbrochenem – war unmöglich zu atmen, ohne zu würgen.

Der pausbäckige Junge rechts neben ihm am Tresen plapperte von seiner Hochzeit, während Sarphaeus aus dem Augenwinkel die beiden Paladine in ihren schwarzen Waffenröcken auf der anderen Seite musterte. Auf der Brust trugen sie den scharlachroten Greifen des Garaman-Ordens. Priester des Kriegsgottes. Er sah zu, wie sie Wein in ihre Becher gossen, sich zuprosteten und lachten. Zu wissen, dass einer von ihnen sterben würde, kühlte den brennenden Hass, der ihn innerlich verzehrte.

»Warum tragt Ihr Eure Waffe wie ein Söldner?«

Die Stimme des Jungen riss Sarphaeus aus seinen Gedanken. Der Bursche war siebzehn oder achtzehn Jahre alt, einfältig und langweilig. Die geröteten Wangen verrieten, dass er nicht sein erstes Bier trank. Sein Blick blieb am Heft des Schwertes hängen, das hinter Sarphaeus’ Schulter aufragte.

»Seid Ihr gekommen, um Euch ein Kopfgeld zu verdienen? Oder welch finsteres Geheimnis bringt Euch in diese Ödnis?« Er bemühte sich, verschwörerisch zu klingen. Begierig auf ein Abenteuer, mit dem er vor seinen Freunden prahlen konnte, wenn sie sich betranken. Ein kläglicher Versuch.

»Du hast viele Fragen, Kleiner.« Sarphaeus griff nach der Flasche mit dem Branntwein, füllte seinen Becher und hob ihn, um damit anzustoßen. Er bedeutete dem schweinsäugigen Wirt mit einer Handbewegung, für Nachschub zu sorgen. »Vielleicht beginnen wir mit deinem Namen. Und dann erzähl mir von deiner Braut.«

»Verzeiht, ich rede und rede und vergesse dabei allen Anstand.« Der Junge klopfte mit seinem Bier an den Becher, den Sarphaeus hochhielt, und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Jaron, der Sohn des Müllers, und ab morgen wird die schönste Frau des Dorfes mein sein.« Nach einem kräftigen Schluck aus dem Humpen setzte er ihn hart auf der Theke ab. Nicht alles Bier hatte es in seine Kehle geschafft. Hastig wischte er sich mit dem Ärmel das Kinn ab und stierte selig grinsend ins Leere. Er schüttelte den Kopf, als müsse er sich selbst daran erinnern, wo er war.

Sarphaeus nutzte die Atempause des redseligen Bräutigams. Von seinem pelzverbrämten schwarzen Mantel perlten Regentropfen. Draußen tobte ein Sturm über die Dächer. Er schnallte den Anderthalbhänder vom Rücken und warf ihn samt Scheide auf die Theke, um den Mantel abzulegen. Dabei stieß er den Weinbecher des Paladins zu seiner Linken um, dessen Inhalt sich über den Waffenrock des Besitzers ergoss. Der Ritter sprang auf und fluchte.

»Könnt Ihr nicht aufpassen?«

Ohne sich umzudrehen, zog Sarphaeus ein Leinenbeutelchen aus einer Tasche am Gürtel. Nachdem er das Band gelöst hatte, wog er mit den Fingern etwas Tabak ab und stopfte damit eine kleine weiße Pfeife. Ein Rascheln drang an sein Ohr, als der Paladin den Arm bewegte und die Waffe zückte. Die Klinge glitt mit leisem Schaben aus der Scheide. Ruhig wandte Sarphaeus sich um. Seine Augen verengten sich. Über die Lippen flackerte ein Lächeln.

Das Spiel beginnt.

Er erhob sich und deutete spöttisch eine Verbeugung an, die Hand mit der Pfeife auf die Brust gelegt, die andere mit dem Daumen im Gürtel.

»Verzeiht, das war ungeschickt von mir. Jetzt habt Ihr Euch meinetwegen befleckt. Wie kann ich die Schmach wiedergutmachen, einen Diener unseres großen Gottes Garus beschämt zu haben?«

Der Ritter schnaufte. Sein Gesicht nahm einen blassen Rotton an, der sich zunehmend verdunkelte. Sein Waffenbruder sprang auf und schloss die Finger ums Heft. Doch der erste hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Ehre war eine persönliche Sache.

»Wir werden sehen, wer sich gleich befleckt. Sieh zu, dass deine Eingeweide nicht dein hübsch besticktes Wams besudeln, wenn du in mein Schwert läufst.«

Die Kühle der stählernen Klinge an seinem Hals ließ Sarphaeus schaudern. Ein willkommenes Gefühl.

»Wenn Ihr mir die Kehle aufschlitzt, spritzt mein Blut auf Euren Rock. Dann ist er endgültig hin.«

Er legte die behandschuhte Hand um die Schwertspitze und schob sie seitlich von sich weg. Summend stimmte er eine einfache Melodie an, während er sich dem Paladin so weit näherte, dass er ihm Auge in Auge gegenüberstand. Sarphaeus beugte sich vor, bis seine Lippen fast das Ohr des Ritters berührten. »Du kannst mir vertrauen«, wisperte er. »Ich will dir helfen. Verstehst du das?«

Der Blick des Garaman war erstarrt. Seine Glieder hatten alle Spannung verloren. Er stand da wie eine Marionette in Erwartung der nächsten Bewegung ihres Meisters. Kaum merklich nickte er.

Sarphaeus lächelte. Das war einfach. Schauen wir, wie der nächste Zug gelingt.

»Es gibt größere Gefahren, die den Orden bedrohen, als der Verlust Eurer Ehre«, flüsterte er so leise, dass nur sein Gegenüber ihn verstand. »Sie liegen näher, als du ahnst.« Er deutete auf den zweiten Ritter.

»Lass uns gehen«, befahl der Garaman seinem Ordensbruder harsch. »Wir haben etwas zu klären. Unter uns.« Er schien wieder ganz Herr seiner Sinne zu sein. Doch Sarphaeus wusste es besser.


Im Marschtempo verließ der Paladin die Schenke. Der andere blickte sich um, die Stirn in Falten geworfen, bevor auch er in die Regenwand vor der Tür eintauchte.

Sarphaeus folgte den beiden bis zur Schwelle. Er sah ihnen nach, zwei Lidschläge lang, dann schloss er die Tür und schlenderte zurück an die Theke. Mit einem Zug aus der Pfeife ließ er sich wieder auf den Hocker fallen.

»Wo waren wir, Jaron, Sohn des Müllers?«, fragte er und blies dem Jungen eine Rauchwolke ins Gesicht. »Du heiratest also die schönste Frau des Dorfes. Erzähl mir von ihr.«

»Von ihr … Ja, natürlich«, stotterte Jaron. Mit runden Augen starrte er zur Tür, als fiele es ihm schwer, den Blick davon loszureißen. »Meine Braut …«

Amüsiert beobachtete Sarphaeus, wie der Ausdruck des Jungen sich veränderte. Entrückt lächelnd sah Jaron durch ihn hindurch.

»Sie heißt Klio, hat ein Gesicht wie eine Fee und Haar wie flüssiges Gold«, schwärmte er. »Ihr Lächeln ist wie der Sonnenaufgang, ihre Augen strahlen wie die Sterne.«

»Magst du es, wenn sie laut ist beim Vögeln?«

Jarons Unterkiefer klappte nach unten und blieb dort einen Herzschlag lang. Als er es schaffte, den Mund wieder zu schließen, schluckte er hart.

»Wir heiraten morgen.«

»Du hast noch nie bei einer Frau gelegen, oder?«

Sarphaeus grinste in sich hinein, als er sah, wie der Müllerssohn errötete und sich wand. Verzeih mir den Spaß, Kleiner, du wirst ihn bald vergessen haben.

»Betest du zu den Göttern, Jaron?«

»Natürlich. Aber was –?«

»Glaubst du daran, dass sie deine Gebete erhören? Dass sie einen frommen Mann wie dich belohnen?«

»Die Götter sind weise. Welchen Weg sie auch für mich gewählt haben mögen, ich werde ihn begrüßen«, sagte Jaron artig auf. Er schien sich zu fragen, ob dies eine Art Prüfung war.

»Gut!« Sarphaeus lachte gellend. »Sehr gut.«

Er setzte die Schnapsflasche an und leerte sie mit wenigen Schlucken. Dann ließ er sie fallen. Vor den Füßen des jungen Bräutigams zerschellte sie in Dutzende glitzernde Scherben.

Jaron wich erschrocken zurück. Die Beine seines Hockers schrammten kreischend über den Boden. Um ein Haar wäre er nach hinten umgekippt.

»Du hast Glück.« Sarphaeus stand auf, griff seinen Mantel und warf sich das Schwert über die Schulter. Dabei zwinkerte er dem Müllerssohn verschwörerisch zu. »Du hast eine gottesfürchtige Braut erwählt.«

»Woher –?«

»Nun, wenn du dich zwischen ihren Schenkeln geschickt anstellst, ruft sie ihre Namen. Sehr laut.«

Der Junge sog hörbar Luft durch die Nase ein, richtete sich gerade auf und räusperte sich. »Herr, bei allem Respekt, ich achte Euren Rang und schätze einen guten Scherz, aber das geht doch ein wenig weit. Ihr sprecht von meiner Braut.«

»Aber ich lobe sie doch in den höchsten Tönen. Kein Zweifel, du hast eine gute Wahl getroffen. Sie ist nicht nur schön, sondern auch einfallsreich. Und tugendhaft dazu. Ich bin mir sicher, dass sie noch Jungfrau war, als sie gestern im Wald ihre Beine um meine Hüften geschlungen hat.«

Jarons Miene wandelte sich innerhalb weniger Sekunden mehrfach. Zuerst versteinerten seine Züge, dann riss er die Augen auf, während sein Mund ein weites »O« formte, zuletzt folgten schmale Sehschlitze und mahlende Kiefer. Mit einem Schrei sprang er auf die Füße und zerrte mit zitternder Hand einen Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel.

»Dafür bring ich dich um, du Schwein!«

Einen Lidschlag lang bedauerte Sarphaeus ihn. Dann zupfte er seine Handschuhe zurecht, drehte sich um und ging zur Tür. Es ist Zeit, nach meiner Beute zu sehen.

»Wo willst du hin?«

»Lass gut sein, Müllerssohn«, rief er über die Schulter. »Es gibt nichts, weswegen wir streiten müssten. Du heiratest eine leidenschaftliche Frau, meinen Glückwunsch. Freu dich darauf und steck die Waffe ein.«

»Feigling! Bleib hier und kämpfe!«

Jaron rannte an Sarphaeus vorbei und warf sich mit dem Rücken gegen die Tür, um ihm den Weg zu versperren.

»So kommst du nicht davon!«, schrie er außer sich. Über seine glühenden Pausbacken rollten Tränen. Er stach zu. Sarphaeus machte einen Ausfallschritt nach hinten und entging der Klinge knapp, die auf seinen Hals zielte.

»Was ist nur los mit euch, dass ihr so versessen darauf seid, für jede Nichtigkeit zu sterben?«, murmelte er. Dann sagte er lauter: »Nimm die Waffe runter und lass mich gehen, Sohn des Müllers. Du kannst mich nicht töten, und ich will dich nicht töten.«

Als der Junge sich nicht bewegte, packte er ihn ungeachtet der Klinge am Kragen und zog ihn zu sich heran, bis sie nur noch wenige Zentimeter trennten.

»Es ist ganz leicht«, raunte er ihm ins Ohr. »Steck die Waffe ein, geh beiseite und vergiss, dass du mich gesehen hast. Dann wird alles gut. Verstehst du?«

Jarons Blick wurde glasig. Sarphaeus kannte diesen Ausdruck, wenn er zu Sterblichen sprach: unfähig, etwas anderes zu sehen als seine Augen, etwas anderes zu hören als die Stimme, die in ihren Schädel kroch, die sie zwang, zu gehorchen. Der Junge nickte hölzern und ließ die Hand sinken. Mit hängendem Kopf trat er weg von der Tür. In der Ecke blieb er stehen und starrte auf seine Füße, als wisse er nicht, ob sie zu ihm gehörten.

Sarphaeus drehte sich zu dem Wirt um, der sich von hinten näherte. Die rot geäderten Augen des Mannes waren geweitet und sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Er deutete auf den Müllerssohn.

»Wer seid Ihr und was habt Ihr mit ihm gemacht?«

»Ich habe ihn etwas über die Götter gelehrt. Aber leider wird er sich nicht daran erinnern. Er wird sich an nichts erinnern – genau wie du. Mein Name ist ausgelöscht und vergessen. Du hast ihn nie gehört und mich nie gesehen.«

Der Wirt schaute ihn an, ohne zu blinzeln.

»Ja, Herr.«


Sarphaeus trat hinaus in die Nacht. Sturmböen schlugen ihm den Regen ins Gesicht, fingen sich in seinem Mantel und rissen daran. Dabei rutschte ihm die Kapuze vom Kopf. Er wischte eine schwarze Haarsträhne beiseite, die ihm in die Augen gefallen war. Tropfen rannen über Stirn, Nase und Mund. Er streckte die Zunge heraus, um sie aufzufangen. Das Wasser linderte die Schärfe des Branntweins in seiner Kehle. Er genoss, wie es den Hals hinunterlief und leckte es von seinen Lippen. Dabei stellte er sich vor, der Regen könne allen Schmutz von ihm abwaschen: all das Blut, jede Erinnerung. Warum nicht? Predigen die Priester nicht, Wasser sei heilig? Sie sagen, die Götter würden denen vergeben, die sich von der Sünde befreien. Vielleicht sollte ich einen Priester um seinen Segen bitten. Er lachte laut auf und schüttelte den Kopf. Tropfen stoben von seinem Haar wie bei einem nassen Hund. Das wäre eine grandiose Zeitverschwendung.

Kaum hörbar murmelte er einige Worte. Wie auf Kommando ließ der Regen nach, wurde zu einem Tröpfeln und versiegte schließlich ganz. Nur der Wind jagte weiter über Schindeln, heulte durch Fensterritzen und das Gebälk der Häuser, deren Giebel sich über das schmutzige Pflaster krümmten. Etwa eine halbe Stunde später hatte Sarphaeus das Dorf hinter sich gelassen und bog auf einen schmalen Pfad ab, der zwischen Obstwiesen und Feldern im Zickzack sprang. In der Dunkelheit versank der Blick in den Äckern, durch deren Krumen noch keine Keimlinge brachen. Sarphaeus lauschte dem Ächzen der kahlen Äste der Apfelbäume, die mit dem Sturm rangen. Er kniff die Augen zusammen, um in der Schwärze mehr erkennen zu können. Seine Nachtsicht war exzellent, aber was er suchte, nicht leicht auszumachen. An einem der Bäume, etwa fünfhundert Schritt entfernt, bewegte sich etwas. Eine seltsame Frucht pendelte zwischen den Zweigen hin und her. Immer wieder wurde sie von Böen gegen den Stamm geschlagen. Je näher Sarphaeus dem Schauspiel kam, desto breiter wurde sein Grinsen.

Ts, ts, ts. Was ist nur aus der berühmten Loyalität der Paladine geworden? Ein Wort genügt und schon knüpft ihr den eigenen Bruder auf.

Am Stamm des Baumes angekommen, packte er die Leiche des Ritters am Stiefel, um sie in ihrer Trudelbewegung aufzuhalten. Aus dem Geäst blickten starre Augen auf ihn herab, die weit aus den Höhlen traten. Das Gesicht des jungen Mannes, der eben in der Schenke seinem Waffenbruder hatte beistehen wollen, glich einer grotesken Maske, aus der die Zunge hing wie eine fette blaue Made. Sarphaeus glaubte, noch eine Spur von Überraschung in den verzerrten Zügen zu erkennen. Wieder musste er lächeln. Es war so einfach gewesen.

Es hatte genügt, in dem Garaman den Samen zu säen, den Verdacht, sein Ordensbruder sei ein Ketzer. Der Hass wurzelt so tief in euch. Ein wenig gehegt und genährt, wächst er schnell zum Galgenbaum heran. Sarphaeus drehte die linke Hand und ballte sie zur Faust. Aus einem Loch im Stamm strömten Tausende winziger schwarzer Insekten, die sich auf den Strick setzten und zu fressen begannen. Faser um Faser riss, um dem Seil die Kraft zu nehmen. Sarphaeus nickte dem Ritter zum Abschied zu und machte sich auf den Weg. Den dumpfen Aufschlag des toten Körpers hörte er noch aus einiger Entfernung.

Ruhe in Frieden.


Der Morgen zog rötliche Schlieren in den Nachthimmel, als Sarphaeus den Wald erreichte. Der Turm hob sich als Schattenriss vom heller werdenden Himmel ab. Mehr war nicht geblieben von der Festung, die hier einst über das Land gewacht hatte. Keiner der Menschen, die noch in der Gegend lebten, verirrte sich hierher. Ein Zauber schützte ihn vor neugierigen Besuchern.

Er stieß die Tür auf und warf sein Schwert und den nassen Mantel auf einen mit roter Seide gepolsterten Stuhl. Von außen deutete wenig auf die Schätze hin, die sich in der Ruine verbargen. Im Laufe der Zeit hatte Sarphaeus sich das Gemäuer nach seinem Geschmack eingerichtet.

Im Kamin glommen die Reste des Feuers vom Abend. Er legte zwei Scheite nach und sah zu, wie bläuliche Flämmchen an dem trockenen Holz leckten. Schon bald würde es behaglich warm sein. Auf einer Silberplatte, die auf einem runden Tischchen stand, stapelten sich Pasteten: Wildschwein mit Zwiebeln, Lorbeer und Rotwein. Nicht mehr heiß, aber noch immer köstlich. Sarphaeus nahm eine und biss davon ab.

»Menschen. Hausen in stinkenden Löchern und fressen Abfälle mit den Ratten«, nuschelte er kauend. Dabei kramte er einen Schlüssel aus der Tasche. Auf dem Sims vor einem der bleiverglasten Fenster stand eine hölzerne Kassette mit Bronzebeschlägen. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn, der Deckel schnappte auf. Ein intensiver Duft schlug ihm entgegen. Im Kästchen lagerten getrocknete Kräuter, Samen, Pilze und Blüten. Er nahm es hoch und schlenderte damit zum Kamin. Dort ließ er sich auf eine Liege fallen, deren Seidenpolster den Rotton der Stühle spiegelte. Auf dem Tischchen, neben den Pasteten, stand ein Mörser aus Granit, in den Sarphaeus einige der Pilze und Samen hineinwarf, um sie mit dem Stößel zu einem feinen Pulver zu zerreiben. Er vermischte es mit Tabak und stopfte damit seine Pfeife. Ein wärmendes Feuer und Vergessen: die besten Freunde für jeden neuen Tag.

Gerade wollte er sich auf dem Polster ausstrecken, als sein Blick an einem Umhang aus tannengrüner Wolle hängenblieb. Auf der Lehne eines Sessels neben dem Treppenaufgang. Seine Augen verengten sich. Ein Knurren rollte aus seiner Kehle. Mit geschlossenen Lidern witterte Sarphaeus die Gerüche, lauschte jedem Geräusch: Feuer, Gebackenes, Wildbret, Kräuter, feuchte Wolle, Pilze, Tabak, Regen und Reif, Mäuse, eine Fledermaus im Gebälk. Nichts Ungewöhnliches. Doch! Ein Quietschen im oberen Stockwerk. Eine Diele, Holz, das sich gegen Bewegung wehrte. Der Eindringling war in seinem Schlafzimmer.

Sarphaeus richtete sich langsam auf, jeder Muskel gespannt. Lautlos kam er auf die Füße und schlich in Richtung Treppe. Im Vorbeigehen griff er sein Schwert. Nach der Hälfte der Stufen hielt er inne. Wieder knarrte es. Ein fast stummes Ächzen, das nur mit Mühe das Ohr erreichte. Das Aroma von Farnen, Moos und Erde durchwehte die Luft: ein vertrauter Geruch. Sarphaeus lächelte. Mit wenigen Sprüngen erklomm er die Treppe. Im Türrahmen der Kammer blieb er stehen, um hineingebeten zu werden.

»Worauf wartest du? Komm näher.«

Auf dem Bett saß eine feingliedrige Frau in einer grünen Leinentunika und rostroten, schmalen Lederhosen. Der Absatz eines ihrer Stiefel klopfte in beharrlichem Takt auf die Dielen, was sie nicht zu bemerken schien. Ihr Haar floss in kupferroten Locken über die Schultern bis zur Hüfte. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen vollen Mund und helle Haut, die von Sommersprossen übersät war. Am auffälligsten aber waren ihre großen Mandelaugen, in denen sich abwechselnd das Blau des Himmels, das Braun der Erde und das Grün der Wipfel im Frühling spiegelten. Ihre Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß.

»Du trägst Aevis noch, wie ich sehe. Gib es mir.«

Respektvoll verbeugte Sarphaeus sich und reichte ihr das Schwert.

»Gavna, Ewige, Heilige Erdenmutter«, begrüßte er seine Herrin. »Was führt Euch zu mir?

Ihr habt mich lange nicht besucht.«

Gavna antwortete nicht. Nachdenklich betrachtete sie die Waffe.

»Erschaffen aus lebendigem Stahl«, sagte sie einige Atemzüge später. »Die Klinge bleibt ewig scharf, schneidet mühelos durch Stein. Sie gehorcht nur dir und verbindet dich mit der Energie, den Gedanken und Erinnerungen eines jeden, in dessen Fleisch sie dringt. Wertvoll, möchte man meinen.«

Sarphaeus’ Lächeln erstarb. Dies war kein Besuch aus Verbundenheit.

In dem grünlichen Schimmer, der das Metall überzog, bildeten sich Wirbel und Ströme.

Die Erdenmutter fuhr mit dem Finger darüber, um Muster in den Schleier zu malen.

»Es ist lange her, dass ich dieses Schwert gesehen habe.« Sie seufzte. »Es war ein Geschenk von mir, um dir für deine Treue zu danken.« Dann hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. »Aber du hast nicht nur mir Treue geschworen.«

Ihre Stimme war klar wie perlendes Wasser, doch Sarphaeus hörte die Stromschnellen darin. Unwillig strich er sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Schickt Euch der Rat?«, fragte er lauernd und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was will er noch? Ich lebe unter Sterblichen, höre ihnen zu, nehme mich ihrer an. Ist das nicht wahre Hingabe?«

»Hingabe? So nennst du es, wenn du dir nimmst, was dir gefällt?« Gavna atmete hörbar ein. »Um dich eine Nacht nicht zu langweilen, zerstörst du Leben. Du lässt Menschen verzweifeln. Du flüsterst ihnen Ideen ein, die sie ins Unglück stürzen, nährst Blutfehden und siehst zu, wie sie sich gegenseitig auslöschen. Das habe ich dich nicht gelehrt. Du bist noch immer einer von uns, handle danach. Gib den Sterblichen Hoffnung. Hilf ihnen, an die Liebe der Götter zu glauben, denen sie dienen. Das ist Hingabe.«

Sarphaeus lachte bitter. Er ging an Gavna vorbei und trat an das offene Fenster. Draußen attackierte ein Specht eine Made, die sich hinter einem Rindenwall verschanzte.

»Warum soll ich sie belügen? Die Götter streben nur nach Macht. Wer dabei unter ihre Stiefel gerät, wird zerquetscht. Das weiß niemand besser als ich.«

»Sarphaeus, gib acht, was du sagst.«

»Warum? Ich durfte ihre Gnade kosten. Es genügte, dass mein ›Herr‹ Garus das Wort ›Verräter‹ aussprach, und der Rat hat mich vernichtet. Sie haben meinen Namen ausgelöscht, mich verstoßen, geächtet, alle ermordet, die mir folgten. Niemand außer dir hat es gewagt, dem mächtigen Gott des Krieges zu widersprechen. Die Ewigen sind Heuchler. Sie lassen die Sterblichen im Elend faulen, bis sie auf dem Schlachtfeld für den Ruhm ihrer Götter verrecken. Dabei reißen sie alles Leben um sich herum mit in den Untergang. Für ein wenig mehr Macht. Ich habe nur versucht, diesen Wahnsinn zu beenden. War das so falsch?«

»Du weißt, was der Rat von dir erwartet«, fuhr die Erdenmutter beschwörend fort. »Tu es einfach. Schluck deinen Stolz runter, geh auf die Knie und bitte um Vergebung.«

»Wen? Den Rat oder … Garus?«

Gavna schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Als sie die Lider wieder aufschlug, schaute sie noch einmal auf das Schwert, bevor sie es beiseitelegte. Der Schleier auf der Klinge glühte hell auf.

»Ich sorge mich um dich, verstehst du das nicht? Du kannst dich nicht von uns abwenden und leugnen, was du bist. Dein Herr fordert Treue von dir. Er ist bereit, zu vergessen, was war, wenn du dich ihm unterwirfst. Balan und der Rat der Lichtgötter werden dir beistehen.

Sie werden dafür sorgen, dass er die Vereinbarung einhält. Das ist deine Chance, Frieden zu schließen.«

Frieden schließen? Mit ihm? Allein der Gedanke ist absurd. Sarphaeus beobachtete seine Herrin, während sie sprach. Gavna war anders als die Götter des Rates. Er vertraute ihr. Unzählige Male hatte sie ihn verteidigt. Sie war der letzte Halt in dem Mahlstrom, der ihn immer weiter hinabzog, seit er ihn in Bewegung gesetzt hatte.

»Ich diene Euch. Was auch nötig ist, um Euer Reich zu schützen, ich tue es. Aber Garus?

Nie wieder. Das kann ich einfach nicht. Er hat mir alles genommen.« Herausfordernd hob er das Kinn. »Wie will mich der Rat noch bestrafen?«

Gavna erhob sich. »Ich hatte gehofft, dich zur Vernunft bringen zu können. Die anderen davon zu überzeugen, dass du trotz allem loyal bist. Aber wenn du an deinem Irrweg festhältst, kann ich dich nicht weiter schützen. Der Rat schickt mich, um dir zu verkünden, dass er ein Urteil über dich gesprochen hat.«

Sarphaeus starrte auf ein Astloch im Dielenboden. Er wagte nicht, den Kopf zu heben, als würde erst wahr, was seine Herrin sagte, wenn er ihr in die Augen sah. Ich wusste, dass sie mich nicht mit der Ewigkeit unter Sterblichen davonkommen lassen. Warum fürchte ich jetzt ihr Urteil?

»Was werden sie tun?« Seine Stimme klang heiser. Er hatte das Gefühl, als stecke ihm ein Stein in der Kehle, der mit jedem Atemzug wuchs.

Gavna ging auf ihn zu und streichelte seine Wange. »Das wirst du selbst herausfinden müssen, ab jetzt bist du auf dich gestellt.« Ihre Züge entspannten sich, ihr Tonfall wurde zärtlich. »Doch lass uns unser seltenes Zusammentreffen nicht im Streit beenden. Du weißt, dass ich dich immer lieben werde. Sieh das, was kommt, als eine gut gemeinte Lektion des Rates. Nimm sie an und lerne daraus.«


Viertes Zeitalter, 17. Tag im dritten Mond Garúis, 1231

Seit Stunden starrte Sarphaeus auf das Pergament. Ihm kam es vor, als seien es Tage gewesen. Er tastete nach der Weinflasche, die neben dem Tintenfass auf dem Schreibtisch stand. Leer. Fluchend schleuderte er sie an die Wand, wo das Glas zersprang und in Scherben herabregnete. Sie sammelten sich auf dem Haufen, den die Überreste der vier Flaschen zuvor bildeten. Immer dieselbe Stelle. Sarphaeus hatte ein gutes Auge.

Wieder griff er nach der Laute und zupfte eine Melodie, um sich abzulenken, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Wenn er glaubte, eine Zeile für den Text zu haben, zerrann sie innerhalb von Sekunden.

Seit zwei Wochen versteckte er sich zwischen den dicken Mauern des Turms, und mit jedem Tag schien der Raum enger zu werden. Der Stein drohte, ihn zu begraben. Ich muss hier raus! Sehnsüchtig dachte er an die lauer werdende Waldluft, in die sich der Duft erster Narzissen stahl.

Doch gerade dort, wo er sonst Frieden fand, hatte ihn die Strafe des Rates wie ein Dolchstoß getroffen. Es war ein stiller Abend gewesen, zwei Tage nachdem Gavna gegangen war.

Tau hatte ein funkelndes Netz über das Schilf am Flussufer geworfen, die untergehende Sonne tausendfach gespiegelt. Sarphaeus hatte auf seinem Weg innegehalten, um das Schauspiel zu genießen, als ihm etwas Fremdes, Kaltes unter die Haut gekrochen war. Es war in seinen Geist eingedrungen und hatte von ihm Besitz ergriffen. Seitdem fand er keine Ruhe mehr.

Wie alle Götter war Sarphaeus unsterblich. Er brauchte keinen Schlaf, empfand weder Hunger noch Durst noch Schmerz. Doch jetzt brachen Wellen eines fast körperlichen Leids über ihn herein. Wie das ferne Echo der Angst und der Qual, die er als Kind erlitten hatte, als er noch verletzlich wie ein Sterblicher gewesen war. Eine Zeit, an die er sich nicht gern erinnerte.

Ein Luftzug neigte die Flamme der Kerze zur Seite, flüssiges Wachs floss über den Rand. Sarphaeus beobachtete, wie es einen Weg über die Maserung des Holzes suchte.

Er erstarrte, als ein Schrei durch die Stille schnitt.

Sarphaeus sprang auf. Kalter Schweiß bildete Lachen auf seiner Haut, drang durch das Gewebe seiner Kleider. Sein Herz raste.

»Wer bist du?« Schweigen. »Wenn sie dich schicken, zeig dich, verflucht! Sieh mir in die Augen!« Wieder keine Antwort.

Es flehte, weinte, wimmerte – ohne einen Laut. Er begriff: Das alles geschah in seinem Kopf. Sarphaeus schauderte. Werde ich verrückt? Ist das eure Strafe? Habt ihr mir den Verstand genommen? Er schlug die Hände vors Gesicht und wich zurück. Nein, so gnädig seid ihr nicht.

Mit einem Aufschrei wischte er Pergament und Tintenfass vom Tisch. Er versetzte dem Stuhl einen Tritt, sodass er quer durch den Raum flog. Sarphaeus fluchte und floh aus dem Turm. Hinter ihm krachte die Tür ins Schloss.

Scheiß auf den Rat. Was können sie schon tun?


Als er anhielt, stand der Mond am Himmel. Etliche Stunden war Sarphaeus ziellos durch den Wald gerannt. Ob er davonlief oder hoffte, etwas zu finden, wusste er nicht. Es tat gut, den Atem zu spüren, der in die Lungen drang, und das Blut, wie es in den Adern pulsierte. Eine Nachtigall sang. Im Unterholz knackten Zweige, ein Fuchs huschte vorbei, Wildschweine durchpflügten die Erde nach Eicheln. Sacht fegte der Wind graue Blätter des vergangenen Jahres von den Wurzeln der Bäume. Den Rücken an den glatten Stamm einer Buche gelehnt, ließ sich Sarphaeus nach unten gleiten. Er sah hinauf zum Sternbild des Kriegers, einer Konstellation aus fünf strahlenden Punkten in einem Meer der Finsternis. Die endlose Weite, die ihn davon trennte, beruhigte ihn.

Er zog die Pfeife aus der Tasche, schlug einen Funken und brachte den Tabak mit einigen Zügen zum Glühen. Sollen sie mir auch nehmen, was mir geblieben ist, irgendwann werde ich Gerechtigkeit finden. Und wenn ich alles dafür niederbrennen muss. Ich werde endlich frei sein. Garus hat mich eine Ewigkeit erniedrigt und geschunden. Was auch immer der Rat mir antut: Ich werde es überstehen.

Er schloss die Augen und begrüßte den Nebel, der sich auf seine Gedanken senkte. Die bitteren Erinnerungen an die Strafen des Kriegers, das Urteil der Götter, den Verlust und den Schmerz lösten sich auf, verschmolzen mit einer wohligen Apathie. Alles wurde warm und friedlich. Er fiel, immer tiefer, in einen schützenden Kokon des Vergessens.

Ich werde es überstehen.

 
 
 

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